INTERVENTION: HÖRSTÜCKE & KLEBERAKTION


Ein Partnerprojekt der Schweizerischen Kulturstiftung Pro Helvetia und im Rahmen der Initiative „Kulturelle Vielfalt in den Regionen“ des Kantons Solothurn

Forderungen des Oltener Streikkomitees
Der Landesstreik im November 1918 ist ein bedeutendes Ereignis der Schweizer Geschichte. Er wurde im Kanton Solothurn sehr unterschiedlich erlebt.
Das Projekt „Verschiebungen 18/18“ geht diesen unterschiedlichen Perspektiven nach und greift dabei in mehreren kleinen Teilprojekten Aspekte auf, die vielleicht weniger bekannt sind.

Gestartet ist „Verschiebungen 18/18“ mit sechs von insgesamt neun Forderungen des Oltener Aktionskomitees in einer leicht aktualisierten Sprache:

Wir fordern die Neuwahl des Nationalrates nach dem Proporzsystem
Wir fordern das Stimmrecht für Frauen
Wir fordern die Beschränkung der Wochenarbeitszeit auf 48 Stunden
Wir fordern Lebensmittel für alle
Wir fordern eine Alters- und Invalidenversicherung
Wir fordern die Tilgung aller Staatsschulden durch die Besitzenden


Die Forderungen sind Teil des Minimalprogramms, das die organisierte Arbeiterschaft über ihre Vertretung, das Oltener Aktionskomitee, an den Bundesrat richtete.
Nahezu alle Forderungen wurden in der Zwischenzeit auf demokratischem Weg verwirklicht. Manche recht kurzfristig, andere brauchten Jahrzehnte.
Die Themen der Forderungen waren und sind bis heute – unter anderen Umständen und Voraussetzungen – in der Diskussion, betreffen sie doch wichtige Eckpunkte unseres Selbstverständnisses in der Schweiz.

Die Forderungen sind auf Asphaltklebern in Breitenbach auf dem Eugen-Saner-Platz, in Olten auf dem Vorplatz der Martin Disteli-Unterführung und in Solothurn auf der Kreuzackerbrücke aufgetaucht. Zunächst ohne Anhaltspunkte auf die Quelle. In zwei Stufen wurden die Bodenkleber mit dem Zeitpunkt, in dem die Forderung gestellt wurde und dem Zeitpunkt der Umsetzung ergänzt. Schliesslich kamen Zitate aus den Interviews hinzu, welche 2016 mit Solothurner/-innen geführt worden sind.

Die letzte Ergänzung fand am Samstag, 20. August zeitgleich an allen drei Orten statt. Die Passant/-innen hörten über Lautsprecher weitere Statements aus den Interviews. Sie erhielten eine «Essensmarke für eine Suppe», welche zur Vernissage von Hörstücken, basiernd auf Quellentexten, am 9. November auf die Holzbrücke in Olten einlädt. Der Bon erinnert an die Rationierungsmarken von 1914 – 1918 in der Schweiz.

«Worom risset der d‘ Chläber jetz weder ewäg? Die si doch guet gse!» A.F. 20.08.2016

«I ha vor zwöi Johr afoh schaffe. Wenn ig is Pensionsauter chume, wird’s das Gäud gar nüm gäh. Das isch es rein mathematischs Problem.» S.K., Physiker, 20.08. 2016

«Das hani gar nid gwüsst, dass ir Schwitz sone Hungersnot isch gsi.» R.G. 20.08.2016

«Demokratie ist nicht einfach zu lernen. Das braucht Zeit, viel Zeit.» Eine Touristin aus Deutschland in Solothurn 20.08.2016

«Me cha nid immer nur fordere. Me muess au mou öppis mache.» U.S. 20.08.2016

Der Landesstreik
In den ersten Novembertagen 1918 kommt es in 19 Schweizer Städten zuerst zu einem Warnstreik und dann zum ersten und einzigen Landesstreik der Schweizer Geschichte. Er war Folge einer aus heutiger Sicht nahezu unvorstellbaren sozialen Ausgrenzung der Arbeiterschaft in der Schweiz und er reagierte auf einen provokativen Truppenaufmarsch der Armee unter General Ulrich Wille. Am Warnstreik vom 9. November und am nachfolgenden Landesstreik nahmen etwa 250 000 Erwerbstätige teil – vor allem in der Deutsch­schweiz, teilweise aber auch in der Westschweiz und im Tessin. Sie legten die Arbeit nieder und verliehen damit den Forderungen des Oltener Aktionskomitees Nachdruck, das vom Berner Nationalrat und späteren Regierungsrat Robert Grimm angeführt wurde. Mit dem grössten in der Schweiz je für den Ordnungsdienst erlassenen Truppenaufgebot von 110 000 bewaffneten Soldaten vorwiegend aus ländlichen Gebieten demonstrierten Bundesrat, General und Bundesversammlung nach anfänglichen Verhandlungswillen Unnachgiebigkeit und Härte. Am 14. November sah sich das Oltener Aktionskomitee gezwungen, den Streik bedingungslos abzubrechen.

Das rasche Ende des Landesstreiks ist aus historischer Sicht nicht bloss als Niederlage zu sehen. Tatsächlich wurden wichtige Forderungen der Arbeiterschaft und breiter Teile der Bevölkerung später mit demokratischen Mitteln erfüllt. Dazu gehörte die 48-Stunden-Woche, die Neuwahl des Nationalrats auf Grundlage des Proporzes, mit grosser Verzögerung die Einführung der AHV/IV 1947/1948 und des Frauenstimmrechts 1971. Mit der Erfahrung der gefährlichen Konfrontation von 1918 – es gab Tote in Zürich und Grenchen, und manche fürchteten einen Bürgerkrieg – legte der Landesstreik wohl auch einen Grundstein zu jener konsensualen politischen Verhandlungskultur, wie sie die Schweiz danach viele Jahre geprägt und von anderen Ländern unterschieden hat.

Für den Kanton Solothurn ist der Landesstreik nach wie vor mit ambivalenten Gefühlen verbunden: Einerseits stammten die führenden Persönlichkeiten aus anderen Kantonen und hatten sich eher zufällig – dank der guten Verkehrslage – in Olten getroffen, wo das Komitee seinen Namen annahm. Andererseits gehören zu den Erinnerungen aber auch die militärische Besetzung Oltens und die blutigen Ereignisse nach Streikabbruch: In Grenchen wurden am 14. November drei Zivilpersonen von den Schüssen des Füsilierbataillons 6 getroffen und getötet. Die an kriegerische Zustände erinnernde Situation grub sich hier besonders tief ins kollektive Bewusstsein der älteren Generationen ein, während die heutige junge Generation von Solothurner/-innen kaum mehr über die Ereignisse rund um die Novembertage 1918 unterrichtet scheint.

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